Waagschale
- Anja
- 5. Juli 2024
- 2 Min. Lesezeit
Seit einer Woche leben wir nun in unserem Bus und begreifen noch immer nicht hundertprozentig, dass das jetzt unser Leben ist. Unser Müsli morgens hat noch nie so gut geschmeckt, unser Zuhause noch nie so unangenehm gerochen, baden bei Regen hat mir bisher kein „Was soll’s“ entlockt. Abends schauen wir uns an und staunen: „Was gönnen wir uns für einen krassen Luxus?“
Wie schnell sich die Prioritäten und Ansprüche verändern und den Gegebenheiten anpassen, hängt für mich und uns von dem ab, was sich auf der anderen Seite der Waagschale auftut: Enorme Freiheit und Unabhängigkeit. Über beide Konzepte oder Ideale habe ich nie tiefergehend nachgedacht, nie hatten sie allzu große unmittelbare Relevanz für mich – insbesondere deshalb, da ich mit dem Privileg eines deutschen Passes, freier Berufs-, Sexualitäts- und Weltbildwahl leben darf und wenig Diskriminierung ausgesetzt bin. Jetzt unterwegs zu sein, ohne allzu klare Ziele vor Augen, mit der ständigen Notwendigkeit kleine und große Entscheidungen zu treffen, niemandem außer mir selbst (und vielleicht Lars und Lulu) Rechenschaft, Leistung oder Interaktion schuldig zu sein; das ist eine Art der Autonomie, die sich überraschend gut anfühlt. (Gleichzeitig wird die Welt mir nicht egal, aber dazu evtl. an anderer Stelle mehr.)
Überraschend ist allerdings auch, dass Lars und ich noch nicht genervt voneinander sind und überhaupt vermeiden allzu genervt zu sein. Denn ein Gros unseres Tages besteht notgedrungen aus Nervkram: Ständig räumen, fahren, recherchieren wir. Kaufen ein, kochen, ziehen uns um, wechseln die Schuhe, tanken, versorgen Lulu. Der Alltag und der „Haushalt“ sind auf gewisse Weise intensiver geworden. Dass es seit drei Tagen kalt ist und regnet und Rüdiger vollgestellt und -gehängt ist mit nassen und klammen Sachen, die niemals trocken werden, stört zwar, aber hey: die Waagschale immer im Blick!
Hier in Schweden hält sogar Lulu schwanzwedelnd die verregnetste Wanderung ihres Lebens durch. Und das bedeutet einiges. Wir haben lange für diese Reise gespart – auch das ermöglicht uns die aktuelle Autonomie. Und wir wissen, dass der Weg in einen anderen Alltag nur aufgeschoben ist. Aber für mich ist schon nach nur einer kurzen Woche spürbar, dass wir in diesen Alltag vermutlich einiges mitnehmen können von „draußen“.
~anja. 5. Juli 2024, Bengtsfors (Schweden)
Comentarios